MEHR ALS 100 TOTE IN BEIRUTKrankenhäuser müssen Verletzte abweisen
- -AKTUALISIERT AM
Nach der Explosion im Hafen von Beirut mit mehr als 100 Toten und tausenden Verletzten sind die Helfer überfordert. „Die Verantwortlichen werden den Preis bezahlen“, verspricht Ministerpräsident Diab. Viele glauben ihm nicht.
Wie aus dem Nichts zerbersten die Fensterscheiben, Glassplitter fliegen wie Hagelschauer durch die Luft, schwere Holztüren werden aus den Angeln gerissen. In Panik stürmen die Menschen ins Freie, Scherben knistern unter ihren Füßen. Ungläubige Blicke gehen in Richtung Küste, wo roter Rauch aufsteigt. Die Filmaufnahmen, die schon kurz nach der Explosion kursieren, könnten einem Katastrophenfilm aus Hollywood entsprungen sein: erst eine Rauchsäule, dann eine gewaltige Detonation und eine Druckwelle, die durch die Straßen fegt, Autos umwirft, Häuser einstürzen lässt und ganze Stadtteile verwüstet. Beirut steht unter Schock. Das Ausmaß des Unheils, das am Dienstag über die libanesische Hauptstadt hereingebrochen ist, ist zu groß, um es fassen zu können.
Der Gouverneur von Beirut bricht vor laufenden Kameras in Tränen aus. Angehörige, Freunde, ausländische Botschaften suchen fieberhaft nach Vermissten. Die Krankenhäuser können der Flut der Verletzten kaum Herr werden. Ihre Zahl steigt immer weiter: Am Mittwochmorgen sind es mehr als 4000. Mehr als 100 Menschen sollen durch die ungekannte Explosion im Hafen ums Leben gekommen sein, heißt es vom libanesischen Roten Kreuz. Der Oberste Verteidigungsrat hat Beirut zur Katastrophenzone erklärt, die Regierung einen Tag der Trauer ausgerufen.
Das Land hat einen Krieg mit Israel überstanden, einen Bürgerkrieg. Aber etwas so Apokalyptisches, sagen Leute, die beides erlebt haben, hat es noch nicht gegeben. Schnell kursieren düstere Gerüchte. War es ein israelischer Luftangriff? Leute wollen Flugzeuge gesehen haben. „Fake News?“, fragt einer in dem Heer von Verstörten auf den Straßen, und zeigt eine vermeintliche Meldung auf dem Mobiltelefon vor, die über das Bombardement eines Waffenlagers der irantreuen Schiitenorganisation Hizbullah fabuliert. Völlig abwegig ist diese Sorge nicht. Erst vor gut einer Woche hat es ein Scharmützel an der Grenze gegeben.
Wenigstens kein neuer Krieg
Als der Chef der „Allgemeinen Sicherheit“ am Dienstagabend verkündet, das Unglück sei wohl durch die Explosion von explosivem Material verursacht worden, klingt das schon fast wie eine gute Nachricht. Wenigstens kein neuer Krieg. Die Rede ist von 2700 Tonnen Ammoniumnitrat, einer Chemikalie für die Herstellung von Dünger oder Sprengstoff, die explodiert sein könnten. Der genaue Hergang des Unglücks ist noch unklar.
Dafür aber eine giftige Wolke, die über ein Land zieht, das ein gutes Stück weiter an den Abgrund gerückt ist. Und die von Ministerpräsident Hassan Diab aufgeworfene Frage, wie es sein kann, dass eine hochexplosive Chemikalie über Jahre im Hafen gelagert wird. „Die Verantwortlichen werden den Preis bezahlen“, sagt er in einer Fernsehansprache.
Die Sorge, dass sich die großen inneren Spannungen entladen könnten, herrscht schon länger. Die Wirtschaft steckt in einer ungekannten Krise, Familien verarmen. Der von einem korrupten Kartell aus Warlords und Oligarchen heruntergewirtschaftete Staat implodiert. Ist es jetzt die Detonation im Hafen, die das Land komplett zusammenbrechen lässt?
Erst einmal rufen Regierung und Mächtige wie die Hizbullah zur Geschlossenheit auf. Die von Iran gelenkte Schiitenorganisation gilt als heimlicher Herrscher über den Hafen. Schon bald wird es die ersten Schuldzuweisungen geben. „Das hier war das Erdbeben, der Tsunami kommt noch“, unkt ein christlicher libanesischer Beobachter in der Nacht des Unglücks.
Erst einmal stehen aber andere Dinge im Mittelpunkt. Die überforderten Krankenhäuser müssen Verletzte abweisen, Kliniken wie das St.-George-Krankenhaus im Stadtteil Geitawi sind selbst von der Explosion betroffen. Das Gesundheitssystem ist gezeichnet von Jahrzehnten der Misswirtschaft. Die Kliniken haben Personal entlassen und ächzen schon unter der Belastung durch das Coronavirus. Der Libanon hat früh reagiert und die Infektionszahlen durch einen drastischen Lockdown begrenzt. Doch in den vergangenen Wochen sind die Infektionen dramatisch angestiegen. Am Dienstag hatte die Regierung gerade einen Tag Lockdown-Pause eingelegt. Jetzt müssen Verletzte auf Parkplätzen behandelt werden.
Die Wirtschaftskrise wird sich weiter verschärfen, jetzt, wo Geschäfte, die noch nicht pleite gegangen sind, von der Detonation getroffen wurden. „Alles kaputt“, sagt ein Hotel-, Restaurant und Barbesitzer. Seine Lokale liegen an einer einst lebendigen Ausgehstraße, die längst zu einem Schatten ihrer selbst geworden war. Jetzt sieht sie aus wie ein Schlachtfeld.
Der Hafen von Beirut, dessen Gelände nur noch ein Trümmerfeld ist, war eine wichtige Lebensader des Landes. Der Staat hat sich vor Monaten offiziell für Bankrott erklärt. Hoffnung darauf, dass die Regierung eine Hilfe sein kann, herrscht nicht an diesem Tag der Katastrophe.
Nicht nur Fouad, ein Taxifahrer, sieht in dem Unglück vor allem einen Beweis für die Gleichgültigkeit der politischen Klasse, deren Führer sich erbittert gegen einen Hilfskredit des Internationalen Währungsfonds zur Wehr setzen, weil sie dann dringend nötige Reformen angehen müssten. „Ihnen ist einfach alles egal“, sagt Fouad. Er kämpft seit Wochen ums wirtschaftliche Überleben, seine Miete hat er seit Monaten nicht bezahlt. Die Soldaten der Armee, die dafür sorgen, dass auf die Katastrophe nicht noch Plünderungen oder bewaffnete Konfrontationen folgen, können sich für ihren Sold kaum noch etwas kaufen. Fleisch bekommen sie auch nicht zu essen. Zu teuer.
Auch der Staat kollabiert. Vor der Explosion gab es Zusammenstöße, als wütende Demonstranten das von Korruption zersetzte Energieministerium stürmen wollten. Strom ist dieser Tage eher die Ausnahme als die Regel. Wenn, dann sind es private Generatorenbetreiber, die gegen üppiges Entgelt Abhilfe schaffen. Ausgerechnet nach der Detonation, mitten im Chaos, sprangen einzelne Generatoren wieder an und Licht fiel auf die Trümmer.