FRANKFURTER ANTHOLOGIEFriedrich Hölderlin: „An Zimmern“
- -AKTUALISIERT AM
Man kann nicht oft genug den Mann preisen, der sich Hölderlins annahm. Bei Schreiner Zimmer verbrachte der Dichter die zweite Hälfte seines Lebens und widmete ihm Zeilen mit subtilem Witz.
Mehrere Jahrzehnte, gut die Hälfte seines Lebens bis zum Tod im Jahr 1843, verbrachte der traurige Sänger Hölderlin im Tübinger Turm am Neckar – und man kann nicht oft genug den Mann preisen, der sich seiner annahm, den Schreiner Zimmer, der Hölderlins „Hyperion“ mit Begeisterung las und sich 1807 entschloss, dem aus der Autenriethschen Klinik entlassenen, gebrochenen Dichter, der selbst Freunden als unrettbar wahnsinnig galt, ein Asyl zu bieten. Fortan war Zimmer Hüter und Vertrauter zugleich – und einer jener, die Hölderlins Zustand zu beurteilen und mit ihm umzugehen verstanden. Niemand wusste besser als Zimmer, dass der aus der Welt gefallene Dichter trotz eines Zustands, der als geistige Umnachtung bezeichnet wurde, Momente von Klarheit hatte. Er sah den Genius im Kranken – und steht mit dieser Sicht uns Heutigen näher als Hölderlins Familie, insbesondere der Mutter. Die zahlte zwar regelmäßig für den Unterhalt des Sohnes, besuchte ihn jedoch nie; Hölderlins Briefe an sie wiederum, die Zimmer ihn zu schreiben drängte, lassen mit jeder kühlen, distanzierten Zeile das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn erkennen.
Wo wir den Hymnendichter bewundern, nahm die Mutter den verlorenen Sohn wahr. Nie war er der Theologe geworden, zu dem die Ausbildung am Tübinger Stift ihn hatte formen sollen; er hatte sich über Jahre geweigert, die einträgliche Pfarrerslaufbahn einzuschlagen und die Zeit stattdessen als Hauslehrer, gescheiterter Herausgeber einer Zeitschrift, Geliebter der Gattin eines Frankfurter Bankiers und, dies vor allem, als Dichter vertändelt, er war, kurz gesagt, eine misslungene Investition, eine Enttäuschung. Hölderlin muss gewusst haben, dass er kein einfacher Gast war, litt er doch gerade in den ersten Jahren an Tobsuchtanfällen, verprügelte gar den einen oder anderen Lehrling; er war voller Unruhe, die er bei ausgedehnten Gängen zu lindern suchte, ganze Nächte lang hörte man den Dichter auf und ab schreiten in seiner Turmstube, mit sich selber reden – wenn er nicht am Klavier zur Ruhe fand. Besucher sprach er kratzfüßig mit „Majestät“ oder „Heiligkeit“ an und verstörte sie mit Auftritt und Rede so nachhaltig, dass sie sich schnell verabschiedeten.
Im Turmlabyrinth
Doch schrieb er noch, und wenn ein Gast um ein Gedicht bat, stellte er sich ans Fenster und brachte einige Verse zu Papier, signierte mit „Scardanelli“ oder gar nicht. Seinem Schutzherrn widmete er gleich zwei Gedichte, eines davon in Odenstrophen, das somit an die große Schaffenszeit anknüpft, dazu Themen anklingen lässt, die Hölderlin stets am Herzen lagen, Liebe, Freundschaft, Poesie. Die zwei Strophen sind mehr als eine Gefälligkeit, wie schon der hohe Ton zeigt, sie sind Dank und Freundschaftsgeste an „eine Seele“, einen, der „gut und weise“ ist, auch dem Dichter gegenüber. Welches Vertrauen er dem Schreiner entgegenbrachte, klingt insbesondere in den letzten zwei Zeilen an, in denen dieser („O Teurer“) angesprochen wird. Das Metrum zwingt uns, das „dir“ zu betonen, „dir sag ich die Wahrheit“ – anders als jenen Besuchern also, die mit Höflichkeitsfloskeln vergrault wurden.
Naheliegender als dass Zimmer ganz allgemein mit Offenheit rechnen durfte, scheint es, die Worte als Einleitung zu verstehen, sich den Punkt am Satzende als Doppelpunkt zu denken – und damit die letzte Zeile des Gedichts nicht als weiteres Lob zu begreifen sondern als eben jene angekündigte Wahrheit. „Dädalus Geist und des Walds ist deiner“: Dass der Geist des Walds einem Schreiner nicht fremd ist, versteht sich, hat er doch jahrein, jahraus Umgang mit Holz, gehen ganze Wälder durch seine Werkstatt hindurch. Der Hinweis auf Dädalus ist rätselhafter, auch wenn dank ihm der Bogen zu Hölderlins geliebtem Griechenland, genauer: nach Kreta geschlagen wird. Mörike, der das Gedicht publizierte, sieht mit der „Reb‘“ der ersten Strophe den Weinbergbesitzer Zimmer angesprochen – und mit Dädalus, dem die Erfindung der Säge und des Bohrers zugeschrieben wird, einen mythischen Ahnherrn des Handwerkers auftreten. Das mag zutreffen. Mehr noch als mit Werkzeug aber verbinden wir mit dem Vater des Ikarus die Konstruktion jenes Labyrinths, in dem König Minos den Minotaurus, furchtbare Frucht der Liaison seiner Gattin Pasiphae mit einem Stier, vor den Augen der Welt verbarg.
Wenn der alternde Hölderlin nicht nur ein komischer Kauz, sondern, wie Zimmer nahelegt, ein Mann mit Humor war, darf man ihm auch die Gabe der Selbstironie unterstellen? Dann läge der subtile Witz dieser Zeile wie ihre Wahrheit darin, dass Hölderlin sich implizit mit dem Minotaurus vergleicht, den Dädalus verschwinden ließ, der sein unglückliches Leben in einem steinernen Irrgarten fristete, ganz so wie Hölderlin das seine im steinernen, vom Tübinger Dädalus ausgebauten Turm: Zwei missratene Söhne, zwei Chimären, nie besucht von ihren beschämten Müttern, fern der Öffentlichkeit. Niemand sollte den umnachteten Hölderlin ein Monstrum nennen, aber wenn sich der Dichter selbst tatsächlich – im Scherz, im Ernst? – mit einem der berühmtesten vergleicht, sollte man daran denken, dass sich das Wort von „monstrare“ herleitet, und das heißt: Diese erstaunlichen Wesen, gefangen zwischen Licht und Schatten, Himmel und Hölle, Wahnsinn und Klarheit, zeigen uns etwas, das stets auch Teil von uns ist, das wir aber tunlichst im Verborgenen halten – hier in einem Labyrinth, dort in einem Turm.