it der Homo sapiens dichtet und denkt, sucht er nach seinem Platz in der Welt. Schon Aristoteles weist dem Menschen seine Stellung im Kosmos zu, indem er zwei Aussagen miteinander verknüpft: Menschsein = Lebewesen + Vernunftbegabung. Wie im Duden jede Vokabel dadurch bestimmt ist, dass ihr ein klar definierter Ort zugewiesen wird – etwa der winzige Freiraum zwischen Mensa und Menschengedenken –, so lässt sich eindeutig sagen, was der Mensch ist: ein Kompositum von Animalität und Rationalität, genauer: ein vernunftbegabtes, vom Tier unterschiedenes Lebewesen. Aber was sagt das aus über die menschliche Existenz? Was weiß der Duden von Anthropologie? Und wer definiert was?
Johannes Bobrowski, vor hundert Jahren in Ostpreußen geboren und 1965 in Berlin gestorben, hat die Frage nach dem Menschsein in seinem kurzen, bewegten Leben bis zuletzt beschäftigt. Beheimatung, Fremdheit und Heimatlosigkeit sind Erfahrungen, die seine Biographie nachhaltig prägen: Dem Königsberger Abitur folgte statt des Kunstgeschichtsstudiums die Einberufung zum Arbeitsdienst. Danach Kriegsjahre in Frankreich, Polen und Russland. „Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über die russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein ungefähres Thema geworden: die Deutschen und der europäische Osten.“
Die verlorene Kindheitsheimat
Erst 1949 kehrte Bobrowski aus der Gefangenschaft zurück – allerdings nicht mehr in die untergegangene Welt Kants, sondern in die Viersektorenstadt Berlin, „alt und neu, / schön belebt, mit Bäumen / auch / und Fahrzeugen, hier.“ Aber etwas lässt den Dichter schnell ins Stocken geraten, bringt ihn von der urbanen zurück auf die menschliche Spur: Der Lyriker und Erzähler, der seit 1959 im Ost-Berliner Union-Verlag als Lektor tätig war, entwickelt eine poetologische Anthropologie, mit der er die Gefährdung des „Wortes Mensch“ beschreibt und ihr begegnet: „höre ich das Wort, die Vokabel,/ hör ich hier häufig.“ Als 1961 sein erster Gedichtband „Sarmatische Zeit“ – kurz darauf „Schattenland Ströme“ (1962) sowie der Roman „Levins Mühle“ (1963) – erschien, stellte das für Leser in der DDR eine Sensation dar: wegen des Themas, der verlorenen Kindheitsheimat, mit dem der Autor kulturpolitische Vorgaben (Bitterfelder Konferenz 1959) souverän ignorierte, aber auch wegen der kraftvollen, unverwechselbaren Sprache mit volkstümlichen Elementen und christlichen Symbolen.
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„Stand ein Mensch erst einmal in seiner Tür, wurde er schon umarmt.“ Christoph Meckel berichtet, dass die wachsende Berühmtheit in Ost und West für Bobrowski mit enormem Kräfteverschleiß verbunden war. „Der früher beliebte Gesprächspartner war nervös, er wurde etwas trübe und allgemein. Er wurde zum Trinker.“ Dieser fand zum Schluss nur noch Zeit, während seiner S-Bahn-Fahrten zwischen Wohnort und Verlag zu dichten – vielleicht ist auch „Das Wort Mensch“ auf diesem Weg entstanden. Lästig erscheint darin das Adverb „häufig“; es macht jedoch hellhörig, weil der Leser heute weiß, dass er das letzte Gedicht des Lyrikers vor sich hat. Der sieht „hier“ Kräfte am Werk, die der Vokabel Mensch durch Parteijargon („unsere Menschen“) oder inflationären Gebrauch Fesseln anlegen. So lässt sich das nur als Bleistiftentwurf überlieferte Gedicht vom 15. Juni 1965, das dem Bobrowski-Band „Wetterzeichen“ vom Union-Verlag als letztes Blatt beigegeben wurde, als prophetisches Vermächtnis verstehen. Es geht darum, die kostbare, einzigartige Vokabel vor Festschreibung und Determinismus in Schutz zu nehmen. Das geschieht durch den Hinweis auf eine unverfügbare Größe: „Wo Liebe nicht ist / sprich das Wort nicht aus.“
In einem Brief an Gerhard Wolf erklärt Lew Kopelew (1912–1997), dass er Bobrowski im Krieg direkt gegenübergestanden habe (am Ilmensee). „Was mich in seiner Dichtung, in seiner gestaltenden, ton- und schallreichen und rhythmisch mitreißenden Sprache so gewaltig magnetisch anzieht, kann ich heute nicht – und weiß nicht, ob ich's jemals können werde – deutlich definieren.“
Johannes Bobrowski: „Das Wort Mensch“
Das Wort Mensch, als Vokabel
eingeordnet, wohin sie gehört,
im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.
Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier
höre ich das Wort, die Vokabel
hör ich hier häufig, ich kann
aufzählen von wem, ich kann
anfangen damit.
Wo Liebe nicht ist,
sprich das Wort nicht aus.
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